Vom Glück der Fehlerhaftigkeit im System - wem ein Füllhorn zur Verfügung steht / Dr. Ariane Grigoteit

Werke der letzte zehn Jahre im Oeuvre DeDe Handons

Die Szenerie wirkt grandios: ein nächtlicher Wald strahlt über fünf Panele unter geheimnisvollem Licht. Fast sind die Tannen zu riechen, fast ist der der leichte Schritt auf dem Waldweg spürbar, während eine auf den Malgrund montierte Folie in die dunkle Tiefe führt. Fünf Mal erscheint das Licht, fünf Mal hat Dede Handon das Motiv nebeneinander gestellt. Zwischen Verstrebungen und übereinandergelegten Schichten beherrscht eine Grauskala, die wohl einer schwarz-weiß-Vorlage, einem gedruckten Fotodokument folgt. Fünf Mal nebeneinander erinnert dies an die Serien-Suchbilder Finde den Unterschied. Doch dann offenbaren die zahlreichen sich überlagernden Schichten mit überraschenden Schnittmengen den gemeinsamen Nenner: Handons Bedürfnis zu Durchschauen. Transparenz bei gleichzeitiger Barriere, Blicksperren und tiefe Einblicke – ein lebhafter Dialog auf- und durchscheinender Motive als immer wiederkehrendes Erkennungsraster - „was“ scheint „wie“ durch. In jede Dimension geschichtet, durch die seriellen Bild-Panele in die Breite und die Folien in die Tiefe, eröffnet sich hier nicht nur das Grundprinzip des Werks, sondern auch Handons immanenter Anspruch auf Erkenntnisgewinn.

Das sogenannte „Nachtstück“ von 2007 zählt zu einer Werkgruppe für die die Künstlerin „Natur und Landschaft als Abfolge von Mustern charakterisiert“. Was hier verwoben, übereinandergelegt, opak und transparent verbunden erscheint, eröffnet zugleich immer neue Einblicke - auch in Handons ganz persönliche Welt. In New York geboren, arbeitet die Künstlerin nach dem Studium in Braunschweig heute in Frankfurt. Für die aktuelle Serie der „Wallfotos“ verarbeitet sie digitale Fotovorlagen ihrer nächsten Umgebung: Pflanzen und Architektur, Natur und Zivilisation. Mit feinstem Burda-Schnittmoden-Transparentpapier, das sie vor Jahren geschenkt bekam und nie entsorgen mochte, füttert Handon heute den Drucker. Dessen Ausdrucke erscheinen auch im inneren „Ausdruck“ verfremdet. Ein Kunstgriff, der sich als höchst effizient erwies, denn das zu dünne Papier provoziert verschobene Unregelmäßigkeiten in der Widergabe, Form und Farbe zeigen Auflösung und Zersetzungsprozesse. Auf die Wände appliziert, führt es in neue Dimension, denn die Struktur der Wände, etwa Raufasern oder Risse, rufen ungeahnte Schichtungen und Prägungen hervor. Hier gelingt die Synthese von Malerei und Fotografie, von Nachahmung und Erfindung. An solchen Bruchstellen ist es entscheidend, altes Neu zu sehen, insbesondere die Fähigkeit, das Eine zu sehen und dabei das Andere zu denken – eben die Fähigkeit zum Perspektiv Wechsel. Konsequent simuliert Handon den illusionistischen Anspruch ihrer technischen Bildreproduktion und vereinigt dabei all ihre Erfahrung. So ist sie einerseits hundertprozentig Malerin, experimentiert jedoch gleichzeitig mit dem Medium der Fotografie und bedient sich dabei aller erreichbaren Mittel und Verfahren. Prozesse wie Planung, Intuition und gelenkter Zufall finden in immer neuer Weise zusammen, eröffnen neue Blickwinkel, neue Ein- und Aussichten.

Das Erstaunliche und Genussvolle beim Betrachten der Handon‘schen Arbeiten ist, dass man zuschauen kann beim beobachtenden, tastenden Ausprobieren. Im Rückgriff auf wenig kostbares Material und scheinbar Unvereinbarem folgt die Künstlerin mit neugierig sezierendem Blick dem inneren Antrieb am Machen und Denken mit sinnlichem und ausgebildetem künstlerischen Engagement.

Wenn Kunst ein Wahrnehmungslabor ist, dann gibt es viele Möglichkeiten, den Radius zu erweitern und das Feld abgesicherter Qualitätsbestimmung zu verlassen. Handon koppelt dieses Begehren bereits in den frühen Arbeiten indem sie ihre in Einzelteile zerlegten Bilderwelten neu komponiert, verändert und verfremdet. Wie eine systematisch angelegte Abfolge wirken die Resultate: „Durch die Verschiebung des Blicks unter der Einwirkung der äußeren Wirklichkeit entstehen immer neue Bilder. Sie sollen Aufschluss geben über die Position und Bedeutung des Betrachters, aber auch über die bildnerischen Möglichkeiten, die ein Bild potentiell enthält“, so Handon. Wie eine surrealistische Dichterin lässt sie zerfallen, verschmelzen und erneuern.

Dieser Zugriff kennzeichnet auch die aktuellen Arbeiten im Wiesbadener Kunstverein. Ganz leicht und sensibel, wie im Vorbeigehen sind hier die Elemente des Motivs verwoben. Die ursprüngliche Fotovorlage bewegt sich auf die Wand gebracht wie ein Atmen: als Gitter, als Garant optischer Entmaterialisierung, als Schranke, als Rückhalt und Stütze mit immer neuen Kreuz- und Haltepunkten versehen.

Hier wirkt Handon als Meisterin von Ambivalenz und paradoxer Effekte. Es ist die alte Geschichte: das Zeichen ist nicht das Bezeichnete, der blühende Baum nicht der real zu erfahrende. Handon spielt mit dem Entgrenzen, dem Verfremden als Triebkraft, um gerade die Grenzen erfahrend auszukundschaften. Hier herrschen Neben- und Übereinander als Ordnungsstrukturen. „Durch die Schichtung in die verkehrten Außenwelten entstehen immer wieder neue Bildwelten“, so die Künstlerin. „Durch die Verbreitung der digitalen Fotografie stellt sich die Frage nach Nachhaltigkeit. Meine Collagen „New World“ setze ich aus gefundenen Zeitungsfotos zusammen. Bildteile die für mich nicht von Bedeutung sind, werden eingeschwärzt. Eine neue Bildgeschichte entsteht, die nach der Dekomposition von einer Neuordnung der Welt erzählt“. Und so vereint die jüngste, riesige Wandarbeit in Wiesbaden Stilisierung, Spiegelung, Methamorphose, Tiefeneffekt und materielles Trompe-l’oeil in einem unendlichen Raum-Zeit-Gemälde.

Handon hat einmal gesagt, als Brillenträgerin sehe sie zwei Welten – was für eine Herausforderung! Nun herrscht die Qual der Wahl, aus dem Füllhorn der komplexen Quellen und Bildvorlagen das auszuwählen, was wirklich wichtig ist. Sie zählt zu einer Generation die viele Orte in sich trägt, auch viele Geschwindigkeiten, Zeitformen, ja, das Globale, Mega-Urbane. Und sie ist geprägt vom unablässigen Bedürfnis, zu durchschauen, zu durchleuchten: Strukturen, Situationen, Verhältnisse und Beziehungen.

Dr. Ariane Grigoteit