von allen dingen gelöst / Heike Sütter

DeDe Handon - Corinna Krebber von allen dingen gelöst Ausstellungseröffnung Kunstverein Bellevue-Saal Wiesbaden

DeDe Handon und Corinna Krebber, die hier erstmalig gemeinsam ausstellen, arbeiten auf den ersten Blick in völlig unterschiedlichen Bereichen. Wichtige Aspekte ihres künstlerischen Schaffens berühren sich jedoch auf einer grundlegenden Ebene und eröffnen dialogische Sichtweisen. Im wechselseitigen Reagieren aufeinander ist eine Rauminstallation für den Bellevuesaal entstanden. Ausgangspunkt von DeDe Handons Arbeiten sind Fotografien von Natur, die sie einem mehrstufigen Transformationsprozess unterzieht. Zunächst werden die Fotografien am Computer bearbeitet; mittels Verschiebungen von Kontrast und Farbbalance werden einige Details herausgehoben, andere eher in den Hintergrund gerückt. Dieser digital-malerischen Überarbeitung folgt eine Hochrasterung und Aufteilung des Gesamtmotives in Segmente, die dann jeweils auf einzelnen Blättern ausgedruckt werden - hier im Bellevuesaal dünnes, semitransparentes Schnittbogenpapier . Die derart vereinzelten Motive setzt die Künstlerin schließlich puzzleartig wieder zusammen. Die im Druckprozess verursachten, kaum steuerbaren Veränderungen - leichte Farbverschiebungen, das Verschleifen oder Verschwinden von Strukturdetails, aber auch den bildräumlichen Versatz zwischen den einzelnen Blättern - bezieht die Künstlerin bewusst als Zufallskomponenten in die Komposition mit ein. Im Ergebnis entsteht ein abstrahiertes, fragmentiertes Gesamtbild.
Dede Handons Arbeiten sind somit keine illustrativen Abbilder von etwas, sondern vielmehr Ergebnisse eines nicht in allen Bereichen steuerbaren Prozesses. Sie verweigern sich damit einer vorab festgelegten, eindeutig vorgegebenen, „einzigen“ Sicht - und Verständnisweise. Die Künstlerin zeigt vielmehr exemplarisch, dass jedem Bild eine unendliche Fülle weiterer Bilder und damit Wahrnehmungsmöglichkeiten innewohnt, es also gleichsam eine Art „Sichtbarkeitsreservoir“ bereithält, das dem Betrachter ein weites, offenes Assoziations- und Interpretationsfeld bietet. Die Idee der Offenheit und Schaffung eines Assoziations- und Wahrnehmungsraumes bestimmt auch Corinna Krebbers Arbeiten. Ihr „Ausgangsmaterial“ ist üblicherweise Sprache- Worte oder Texte - die sie, in Papier als Positiv- oder Negativformen ausgeschnitten, zu Skulpturen und Installationen fügt. Das Wesentliche liegt für Corinna Krebber dabei nicht in dem rein begrifflichen Inhalt der Worte, in ihrer Denotation, sondern in den es begleitenden und durch es ausgelösten Vorstellungen und Gedanken - der Konnotation. Kurz - der konkrete Begriff ist lediglich ein Kristallisationskern, um den herum sich ein Bedeutungsraum entwickelt. Formal betrachtet, ist Sprache (Begriffe und Buchstaben) ein definiertes, gesetztes Zeichensysteme, das auf einem allgemeinen Verständniskonsens beruht. Im Bellevue-Saal arbeitet Corinna Krebber zwar nicht mit Worten, aber ebenfalls mit einem - wenn man so möchte - Zeichensystem. Sie bildet aus horizontal und vertikal angeordneten Holzlatten eine komplexe Installation, die als Vielzahl von x-, y- und z-Achsen eines Koordinatensystems den Raum aufspannen und zugleich zergliedern. Indem sie ausschließlich rechte Winkel schafft, nutzt sie nur die absolut notwendigen Komponenten, die zum Erfassen der drei Dimensionen nötig sind. Dabei bildet sie niemals einen komplett umschlossenen, in allen Dimensionen endgültig definierten Raum, sondern lässt vielmehr einige Bereiche offen und Latten im Nichts enden. Wir können also sagen, dass ihre Räume lediglich durch Anweisungen, quasi durch die Vorgabe von Richtungsvektoren gebildet wird. Begriffen gleich sind die richtungsgebenden Latten die Kristallisationskerne, an denen sich Raum aus seinem Kontinuum heraus konkretisiert, sie sind die Grenze zwischen etwas Definierten und (noch) nicht Definierten. Da Corinna Krebber Raum nicht abbildet, sondern nur Anweisungen zu seiner Bildung gibt, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass der Betrachter den Raumbildungsprozess komplettieren muss. Das Knifflige ist dabei allerdings, daß Corinna Krebbers Installation schier unendliche Kombinationsmöglichkeiten von Raumanweisungen bereithält. Je nach Standpunkt lassen sich verschiedene dieser Koordinatensysteme auswählen und Teilräume ergänzen, in dem wir etwa tatsächlich Hintereinanderliegendes scheinbar auf eine Fläche holen und so zu bündigen Raumkanten / Rahmen oder stereometrischen Körpern verbinden. Corinna Krebbers Beitrag stellt daher genauso wie Dede Handons Wandbild ein Sichtbarkeitsreservoir dar, das den Betrachter zu einer Art visuellen Erkundung auf von der Künstlerin strukturell vorgegebenen Pfaden einlädt.
Der italienische Schriftsteller und Philosoph Umberto Eco hat Werke mit einem solchen Reservoir als „offene Kunstwerke“ oder auch „Kunstwerke in Bewegung“ bezeichnet. Weil sie nichts Eindeutiges, sofort Wiedererkennbares „erzählen“, sondern Interpretationsspielräume eröffnen, entsteht das Werk letztlich erst in der Wahrnehmung durch den Betrachter. Der Rezipient wird also zu einem werkimmanenten Faktor, der das künstlerische Werk erst vollendet. Ecos „offene Kunstwerke“ beschäftigen sich daher in letzter Konsequenz mit den grundlegenden Funktionsmechanismen von Wahrnehmung überhaupt: Wie und als was sich uns etwas zeigt, hängt davon ab, unter welchen Bedingungen wir es betrachten – ein "objektives", "autonomes" Auge gibt es nicht. Wahrnehmung erschöpft sich nicht darin, eine gegebene Welt einfach nur aufzunehmen; erst im Prozess der Wahrnehmung wird Welt hergestellt, sie bildet sich - jedesmal neu - im Vollzug des Sehens: Das, was auf die Netzhaut trifft, wird gefiltert, mit Erinnerung, Erfahrung, Wissen kombiniert, aufeinander bezogen und interpretiert.
Nicht zufällig haben die beiden Künstlerinnen als Titel ihrer Ausstellung ein Zitat aus einem Haiku gewählt. Er stammt von Matsuo Basho, einem der bedeutendsten japanischen Dichter aus dem 17. Jahrhundert: „Über den Feldern, von allen Dingen gelöst, singt da die Lerche.“ Haikus sind Gedichte mit einer klaren Struktur: Sie bestehen aus drei kurzen Wortgruppen, stets ist die Natur der Gegenstand, stets wird eine gegenwärtige Situation beschrieben. Am wichtigsten in unserem Zusammenhang erscheint mir jedoch ein anderes Merkmal: Haikus sind nicht abgeschlossene, mithin offene Texte, die sich erst im Erleben des Lesers vervollständigen: Das Wesentliche steht also zwischen den Zeilen, der Leser muss - wie bei Corinna Krebber und DeDe Handon, an der Schöpfung des Werkes teilnehmen. Das folgende Zitat, das aus einem theoretischen Text über Haikus stammt, lässt sich eins zu eins auf die Arbeit der beiden Künstlerinnen übertragen: „Explizite Kunst, die alles zu sagen versucht, was sie bedeuten will, schließt sich selbst in ihre Grenzen ein. Die Kunst der suggestiven Andeutung dagegen ist grenzenlos - sie ist so weit und tief, wie unser eigener Geist sie macht.“ Die den Haiku auszeichnende Kombination von Naturmotivik (Wandbild) und Struktur (Raumgerüst) - das finden wir auch in der Arbeit hier im Bellevuesaal. Beide Teile verbinden sich nicht nur im Aspekt der Offenheit, sondern spielen auch dialogisch mit Räumlichkeit: DeDe Handon fragmentiert in ihrer Arbeit Bildraum, Corinna Krebber Realraum. Durch DeDe Handons Naturmotivik wird Außen und Innen verschränkt, durch Corinna Krebbers Raumstruktur realer Binnenraum und Bildraum der nach innen geholten Natur. Denn: der Blick in den Raum und auf das Wandbild ändert sich mit jedem Schritt, beim Durchschreiten des Raumes sehen wir sukzessiv immer neue Perspektiven, entdecken Blickachsen oder Sichtbeziehungen - und vielleicht auch Brüche und Inkonsistenzen. Bewegung und Zeit werden damit zu wichtigen Konstituenten unserer Raumwahrnehmung. Für mich weist die Arbeit der beiden Künstlerinnen damit metaphorisch auf ein modernes Raumverständnis hin: Ist man noch in der Renaissance davon ausgegangen, dass Raum eine Art „Kiste“ ist - ein statisches, konsistentes Konstrukt, das sich objektiv erfassen lässt (die Idee der Zentralperspektive entspringt hieraus), so wird Raum heute als ein viel abstrakteres, umfassenderes Konstrukt untersucht, das mehr Aspekte als die Physik und sinnliche Erfahrung einbezieht : Es ist ein Konstrukt, das durch die Aktivitäten der Akteure, durch vielerlei Beziehungen zueinander - auch zu überindividuellen Aspekten wie etwa Geschichte, Kultur, wissenschaftliche Erkenntnisse - erst produziert wird. Hierdurch entsteht die Idee eines Raumes, der sich in seiner Konfiguration permanent verändert, wird und vergeht, in dem vieles- durchaus auch Widersprüchliches - gleichzeitig und nebeneinander existieren kann. Die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari haben diese Idee der räumlichen Organisation Rhizom genannt. Es beschreibt ein hierarchieloses System ohne vorneherein festgelegte Verknüpfungen, das nach allen Seiten auswuchert und in dem alles miteinander verknüpft ist. Ein Rhizom hat viele Pfade, Ein- und Ausgänge - einer so richtig und wichtig wie der andere. Das Gegenbild dazu ist der Baum, dessen Aufbau linear- hierarchisch organisiert ist, also über Ebenen, die allesamt einem Hauptstamm entspringen. Ich weiß, dass Reden über Kunst ab und an zu interpretatorischen Kapriolen neigen, aber ich glaube, es ist nicht allzu vermessen zu sagen, dass Corinna Krebbers Raumstruktur die Gedanken eines Rhizoms aufscheinen lassen. Und wie charmant, dass ihr im Wandbild von DeDe Handons Bäume mit ihrem Geäst gegenüberstehen. Heike Sütter / Januar 2011